Wenn ich eine Geschichte zum ersten Mal vom Anfang bis zum Ende entwickelt (bzw. „geplottet“) habe, kommt ein für mich sehr spannender Moment: Wie sieht meine Geschichte aus, wenn ich ihr einen unbestechlichen Spiegel vorhalte? – einen Spiegel wie der des Kaisers, der alle Kleider weglässt und nur das nackte Darunter zeigt. Die DramaQueen-Erzählbögen visualisieren die pure Dramaturgie meiner Geschichte. Wie aber kann ich diese Grafik lesen?
Nehmen wir einfach die Beispielgeschichte in DramaQueen – „Hänsel und Gretel“:
Auf den ersten Blick sieht man ein paar bunte Linien im Zickzackkurs. Das soll jetzt „Hänsel und Gretel“ sein?
Genauer gesagt sind das die vier einzelnen Geschichten, die „Hänsel und Gretel“ erzählt, die jeweils mit Höhen und Tiefen verlaufen: die Geschichte Hänsels (er will zurück nach Hause), die Geschichte seiner kleinen Schwester Gretel (sie wird ein Stück erwachsen), die Geschichte des Vaters (er lernt, was wahres Glück bedeutet) und schließlich die Geschichte der Hexe (sie will Hänsel verspeisen).
Außerdem ist zu erkennen, dass die Geschichte aus vier nahezu gleichlangen Teilen besteht: den Akten 1 / 2a / 2b und 3. Auch die acht Sequenzen, in denen „Hänsel und Gretel“ erzählt wird, sind ähnlich lang. Nur die erste Sequenz ist deutlich länger – wir haben hier also eine relativ ausführliche Exposition.
Hänsel will zurück nach Hause
Zuerst möchte ich mich auf den Bogen des Haupt-Erzählstrangs konzentrieren. Da Hänsel die Hauptfigur der gesamten Geschichte ist, ist Hänsels Strang die Haupt-Storyline (dargestellt in grüner Farbe). Ich deaktiviere deshalb die anderen drei Storylines, so dass nur „Hänsel will zurück nach Hause“ übrig bleibt:
Hänsels Linie beginnt relativ hoch. Denn bis zu Beginn der Geschichte hat Hänsel eine – wenn auch nicht glückliche – so doch zufriedene Kindheit. Diese steht auf dem Spiel, wenn er zufällig mithört, dass seine Eltern planen, ihn und seine kleine Schwester im tiefen Wald auszusetzen. Mit diesem Anstoß, also dem auslösenden Moment der Storyline, geht die Linie steil nach unten. Hänsels Fallhöhe ist gesetzt, damit geht die erste Sequenz zuende. Hänsel muss nun aktiv werden, um sich und Gretel, für die er sich verantwortlich fühlt, vor diesem Schicksal zu bewahren. Ab diesem Moment hat er ein Ziel: den Weg zurück zu finden. Er fasst den Plan, Steine auszustreuen – und tatsächlich, sie weisen ihm den Weg nach Hause. Nach dem Tiefpunkt wendet der erste Plot-Point die Handlung für Hänsel also ins Positive. Die Linie geht von ganz unten nach ganz oben, denn Hänsel hat sein Ziel tatsächlich erreicht: Er und Gretel sind wieder zuhause bei ihren Eltern. Doch bekanntlich ist die Geschichte an diesem Punkt noch nicht zuende, sondern gerade mal an ihrem Midpoint angelangt. Nun geht der Vater – auf Drängen seiner Frau – erneut mit seinen Kindern in den Wald. Damit rückt auch Hänsels Ziel – nach dem Prinzip der Variation und Steigerung – erneut in weite Ferne. Denn dieses Mal werden seine ausgestreuten Brotkrumen von den Vögeln weggepickt. Der zweite Plot-Point ist also wieder ein Tiefpunkt für Hänsel – zumal er diesmal sogar mit einem weiteren Problem konfrontiert ist: Er wird von der Hexe gefangen gehalten und ist somit jeder Möglichkeit beraubt, doch noch nach Hause zurück zu finden. Doch mit Gretels Hilfe kann er zunächst die Hexe überwinden (Klimax) und schließlich heimfinden.
Gretel wird ein Stück erwachsen
Gretels Bogen könnte nun ganz ähnlich verlaufen wie der ihres Bruders. Aber wenn beide Kinder die gleiche Entwicklung durchmachen, also erzählerisch die gleiche „Funktion“ innehaben, bräuchte man im Prinzip nur ein Kind. Deshalb ist es dramaturgisch gesehen viel wirkungsvoller, ihren Bogen (in gelber Farbe) anders zu führen und ihn sogar gegenläufig anzulegen:
Zunächst einmal nimmt Gretel, Hänsels kleine Schwester, die Geschehnisse aus einer viel kindlicheren Perspektive wahr. Ihre Fallhöhe ist zu Beginn sogar noch höher als Hänsels: Sie hat noch keine Ahnung von den finanziellen Problemen ihrer Eltern und ist dementsprechend unbeschwert. Als ihr Vater mit Hänsel und ihr aufbricht, lässt er Gretel glauben, sie machen einen tollen Abenteuerausflug. Hänsel weiß in diesem Moment bereits, was der Vater in Wahrheit vorhat, verrät seiner kleinen Schwester aber nichts. Während Hänsel aller seiner bisherigen kindlichen Sicherheiten beraubt ist, seine Kurve also im freien Fall nach unten ist, freut sich Gretel auf den bevorstehenden Tag. Für sie ist der Anstoß also ein positiver Auslöser der Handlung, der ihre Fallhöhe sogar noch weiter steigen lässt – auf den Höhepunkt ihrer kindlich-naiven Unbeschwertheit.
Doch dann ist der Vater plötzlich spurlos verschwunden und die zurückgelassenen Kinder sind ganz allein im Wald. Als Gretel ihren Vater vermisst, macht Hänsel seinem Schwesterchen weis, dass dies alles nur ein Spiel ist, das ihr Vater mit ihnen spielt. Sie müssen nur den Steinen folgen, und dann sind sie die Gewinner. Gretel glaubt Hänsel und verhält sich somit weiter wie ein kleines Kind – entsprechend geht ihre Linie ab dem ersten Plot-Point nach unten.
Als Hänsel ihr dann endlich die Wahrheit erzählt, bricht Gretels kindliche Welt zusammen. Der Midpoint ist für sie gleichzeitig der Tiefpunkt. Ihre Aufgabe ist es nun, aus ihrer Kindrolle herauszuwachsen, also ein erstes Stück erwachsen zu werden.
In der zweiten Hälfte der Geschichte reagiert Gretel zum ersten Mal nicht naiv – sie durchschaut den Plan der Hexe und warnt Hänsel. Ab diesem Moment – dem zweiten Plot-Point – wird sie ihrem Bruder eine ebenbürtige Partnerin – und kommt damit ihrem Ziel, ein Stück weit erwachsen zu werden, immer näher. Wenn sie die Hexe schließlich in der Klimax in den Ofen stößt, wird ihre kindliche Unschuld endgültig von einer neuen Phase ihres Lebens abgelöst. Auch Gretels Strang endet somit positiv. Während bei Hänsels Storyline das Ziel im Erreichen des Wants besteht (Wantline), ist Gretels Strang so geführt, dass es bei ihr um ihr inneres Need geht (Needline). Auch bei der Storyline des Vaters steht dessen Need im Zentrum:
Der Vater lernt, was wahres Glück bedeutet
Er lernt in der Geschichte, was wahres Glück bedeutet. Zu Beginn sehen wir einen unzufriedenen Menschen – zermürbt von der nagenden Armut und den nicht endenden Streitigkeiten mit seiner Frau. Zweimal folgt er ihrem grausamen Wunsch und setzt seine Kinder aus. Das führt ihn zweimal an den Tiefpunkt – beim ersten und zweiten Plot-Point. Am Midpoint freut er sich über die überraschende Rückkehr seiner Kinder und auch am Schluss gibt es für ihn ein Happy End, wenn ihm bewusst wird, wie lieb und wertvoll ihm seine zurückgekehrten Kinder sind.
Wie man eine Storyline definiert, ist immer auch die Entscheidung des Autors. Dementsprechend ist es entscheidend, wie der Autor die Storylines führen will. Statt „Vater lernt, was wahres Glück bedeutet“ hätte man auch einen anderen erzählerischen Fokus legen können, z.B.: „Vater will sich von seiner Frau emanzipieren“. Würde man den Vater hingegen als Antagonisten begreifen, würde man diesen Strang vielleicht so formulieren: „Der Vater will sich aus finanziellen Gründen seiner Kinder entledigen.“ Sein Bogen würde in diesem Fall genau spiegelverkehrt verlaufen: Das zweimalige Aussetzen seiner Kinder wären seine beiden Höhepunkte, und der Schluss wäre für ihn negativ, weil sein Bemühen schließlich erfolglos war. Das würde dann so aussehen:
Da der Vater aber nur auf Geheiß seiner Frau handelt, könnte man stattdessen auch noch eine eigene Storyline für die Stiefmutter kreieren.
Die Hexe will Hänsel verspeisen
Wir haben uns aber darauf beschränkt, nur einen antagonistischen Bogen zu visualisieren, nämlich den der Hexe. Ihr Ziel ist es, Hänsel erst zu mästen und dann zu verspeisen:
Wie man leicht erkennen kann, beginnt dieser Strang erst kurz nach der Mitte der Geschichte und endet auch vor dem eigentlichen Ende. Ebenso unschwer sind die Wendepunkte auszumachen: Der für die Hexe positive Anstoß erfolgt, als sie Hänsel und Gretel dabei entdeckt, wie sie an ihrem Hexenhaus knabbern. Ebenso positiv geht es für sie weiter, wenn es ihr beim ersten Plot-Point gelingt, Hänsel einzusperren. Die Hexe wähnt sich zum Midpoint schon am Ziel – doch dank Hänsels Täuschmanöver, ihr statt seinem Finger einen dünnen Knochen hinzuhalten, taugt er einfach nicht zum Festtagsbraten. Schließlich begnügt sich die Hexe mit einem mageren Hänsel (zweiter Plot-Point) und will bereits den Ofen heizen. Doch Gretel kann die Hexe im selbigen entsorgen (Klimax) – so dass die Geschichte für die Hexe nicht gut ausgeht.
Was sagt die Grafik über die Dramaturgie unserer Adaption von „Hänsel und Gretel“ aus?
Alle Stränge zusammen zeigen uns eine wendungsreiche Geschichte, die sich am Schluss zunehmend dramatisiert:
Selbst eine scheinbar so simple Story wie „Hänsel und Gretel“ zeichnet sich also dadurch aus, dass jede Figur einen ganz eigenen Entwicklungsbogen durchmacht. Zum Beispiel verlaufen Hänsels und Gretels Storylines lange Zeit völlig unterschiedlich und vereinen sich erst ganz zum Schluss zum gemeinsamen Happy End:
Komplett gegensätzlich verhalten sich der Gretel– und der Hexen-Strang zueinander. Hier ist der einen Höhepunkt jeweils gleichzeitig der anderen Tiefpunkt und umgekehrt:
Dagegen verlaufen die Storylines von Hänsel und seinem Vater lange Zeit ziemlich parallel, was bedeutet, dass ihre Ziele miteinander gekoppelt sind: Beidemale, als Hänsel mit seiner Schwester glücklich nach Hause zurückkehrt, ist auch der Vater froh und glücklich:
Beim Schreiben der nächsten Fassung könnte man nun versuchen, die Wendepunkte der einzelnen Stränge weiter zu verdichten, indem ein Wendepunkt der einen Storyline noch unmittelbarer zum Auslöser einer Wendung in einer anderen Storyline wird. Man könnte sich fragen, ob es dramaturgisch wirkungsvoller wäre, die Fallhöhe des Vaters am Anfang zu erhöhen, die erste Sequenz etwas zu straffen, Hänsels Anstoß früher zu platzieren oder dem Gretel-Strang am zweiten Plot-Point noch eine Wendung zu geben.
In jedem Fall konnte ich mir mit Hilfe dieser Grafik bewusst machen, welche einzelnen Geschichten „Hänsel und Gretel“ erzählt und um was es in jedem Strang eigentlich geht. Ich konnte checken, ob die Erzählbögen aller Storylines auserzählt sind. Was die verschiedenen Motivationen, Konflikte und Hindernisse meiner zentralen Figuren sind. Ob einzelne Akte, Sequenzen oder Steps überproportional lang sind und vielleicht den Fluss der Geschichte behindern. Ich konnte die Masterscenes herausfiltern – diejenigen Szenen, in denen Wendepunkte verschiedener Storylines zusammentreffen. Und nicht zuletzt kann ich damit meine Sicht auf die Geschichte visualisieren, um sie meinen kreativen Partnern – Co-Autor, Produzent, Regisseur oder Redakteur – verständlich zu machen.
Sehr cool!
Ich habe vor ca. 3 Jahren die Beta Version aufgrund einer Empfehlung von Alex Jentz ausprobiert. Leider war sie im Arbeitsfluss noch nicht so gut, dass ich von FD hätte umsteigen wollen.
Ich werde jetzt erneut einen Test wagen und hoffe sehr, dass ich damit glücklich werde.
Toi toi!
Zsolt