Film und Dramaturgie
Dramaturgie ^
Dramaturgie ist die Lehre der Auswahl und Anordnung erzählerischer Mittel zur Darstellung einer Geschichte. Als Technik des Geschichtenerzählens basiert sie auf Analysen von Erzählungen. Seit der Antike begannen sich die Erkenntnisse über Elemente und Bauformen von Mythen, Sagen, Märchen und Dramen zu Maximen zu verdichten. Auf diese Weise kristallisierten sich überkulturelle, mit dem menschlichen Bewusstsein korrespondierende Erzählmuster heraus. Aristoteles stellte erstmals einen Zusammenhang her zwischen der Art, wie eine Geschichte erzählt wird, und dem Empfinden sowie der Lebenserfahrung des Zuschauers. Er machte damit den Rezipienten zum Bezugspunkt der Dramaturgie.
Filmdramaturgie ^
Filmdramaturgie liefert die Prinzipien für eine möglichst „effektvolle“ Komposition einer Geschichte. In einem Film stehen die Narrationskanäle Bild und Ton zu Verfügung, wobei sich die tonale Ebene wiederum in Sprache, Geräusche und Musik unterteilt. Daraus ergeben sich vielfältige erzählerische Möglichkeiten, die das Medium Film von allen räumlichen und zeitlichen Grenzen befreien. Dieser prinzipiellen Schrankenlosigkeit setzt Dramaturgie die Forderung nach Selektion und Effektivität entgegen.
Das Verständnis von Effektivität, das der Dramaturgie zugrunde liegt, beinhaltet dabei zwei Aspekte: ökonomische Reduktion bei maximaler Wirkung. Dramaturgie ist also darauf ausgerichtet, in jedem Moment der Geschichte spezifische Wirkungen beim Zuschauer zu erzielen. Dazu ist es allerdings nötig, dass sie sich selbst im Film unsichtbar macht. In diesem Sinne funktionieren ihre Mechanismen extrem pragmatisch. Die dramaturgische Grundfrage lautet immer: Wie kann eine konkrete Geschichte in möglichst wirkungsvoller und gleichzeitig möglichst verdichteter Weise erzählt werden? Mögliche Wirkungen einer Geschichte sind: Vergnügen, Erkenntnis oder Erschütterung bzw. Komik, Spannung oder Emotion.
Dramaturgie befasst sich mit der Unterteilung und Perspektivierung von Handlungsabläufen sowie mit der Dosierung und dem Timing von Story-Informationen: An welchem Punkt, auf welche Weise und an welchen Adressaten wird eine Information ausgespielt? Wird eine Information als Ganzes enthüllt oder schrittweise? Wie kann ein Konflikt möglichst effektvoll aufgelöst werden? Was ist die Funktion jeder narrativen Einheit? Bringt eine Szene die Geschichte voran oder wird ihr Zweck bereits an anderer Stelle erfüllt?
Dramaturgie bringt die einzelnen Elemente einer Geschichte in eine dramatische Ordnung, die unabhängig von deren chronologischer Reihenfolge ist. Zugleich lenkt sie die Wahrnehmung und Reaktionen des Zuschauers. Filmdramaturgie beschränkt sich jedoch nicht auf den Prozess der Stoffentwicklung und Drehbucharbeit, sondern umfasst alle kreativen Bereiche des Filmemachens. Zudem ermöglicht sie eine verbindliche, objektivierbare Verständigung über die Erzählweise eines Films.
Dramatisches Erzählen ^
Dramatisches Erzählen ist laut Aristoteles eine Mimesis, also eine darstellerische Nachahmung „wahrer“ Lebenswirklichkeit in Form von Handlungen: Die Welt wird in erzählbare Strukturen übersetzt und Konflikte mit Hilfe von Figuren verhandelt, um daraus eine grundlegende Wahrheit über das Leben zu extrahieren. Durch das Stellvertreterprinzip und den Wahrheitsanspruch kann der Zuschauer aus der Mimesis Genuss, Erkenntnis und kathartische Erleichterung ziehen.
Die fiktionale Narration folgt dabei keinem außerfilmischen Realismus oder den Maßgaben von Logik, Naturalismus oder mathematischer Wahrscheinlichkeit. Das entscheidende Kriterium ist vielmehr die Glaubwürdigkeit innerhalb der erzählten Welt. Die Geschichte wird also an den Parametern gemessen, die sie selbst in ihrer Exposition etabliert hat. Dabei konkurrieren Weltwissen und Narrationswissen miteinander. Ein dramaturgischer Kniff, etwas plausibel zu machen, besteht darin, die beteiligten Figuren selbst zweifeln zu lassen, ihre Zweifel aber auszuräumen.
Das Erzählte muss also lediglich innerhalb der Fiktion nachvollziehbar und organisch sein. Etwas Unmögliches kann im Film glaubwürdiger sein als etwas Wahrscheinliches. Objektiv gesehen sind wohl die meisten Happy Endings unwahrscheinlich. Sie können aber durchaus plausibel oder wahrhaftig wirken. Dann sind sie „bigger than life“. Dagegen reagieren Zuschauer auf Zufälle – so sehr sie auch Bestandteile des täglichen Lebens sind – meist mit Ablehnung. Akzeptiert werden sie in der Regel nur zu Beginn der Geschichte oder wenn sie dem Protagonisten zum Nachteil werden, seinen Weg also erschweren und nicht erleichtern. Erst wenn sich Wendungen aus den Dispositionen und Motivationen der Figuren bzw. aus den Gesetzen der exponierten Welt ergeben, wirken sie für den Zuschauer überzeugend.
Insgesamt bestehen die Herausforderungen filmischen Erzählens darin,
- Zustände in Handlungen zu übersetzen
- abstrakte Vorgänge zu veräußerlichen und in Szenen zu verdichten
- strukturelle Vorgänge zu personalisieren
- Figurenmotivationen darzustellen und
- Plausibilität zu erzielen.
Geschlossene Dramaturgie ^
Die geschlossene Dramaturgie geht von der „Vollständigkeit“ einer Geschichte aus und definiert diese anhand eines eindeutigen Anfangs und Endes: Zu Beginn einer Geschichte gerät ein fester Zustand in Bewegung und am Schluss gerinnt diese Bewegung wieder zu einem neuen festen Zustand. Der geschlossenen Dramaturgie liegt demzufolge die 3-Akt-Struktur zugrunde.
Die Verknüpfung der einzelnen Handlungen folgt dem Ursache-Wirkungs-Prinzip. Der erzählerische Anspruch liegt darin, dass sich die Handlung möglichst aus sich selbst generiert und steigert. Idealerweise ergibt sich jeder Vorgang konsequent aus der vorherigen Aktion bzw. er ist eine direkte Folge bzw. Ergebnis der Aktion zuvor. Und dieser Vorgang führt unweigerlich zum nächsten: ‚Weil… deswegen…’ Die Handlung schreitet in einer Weise voran, in der die einzelnen Schritte einander bedingen und unversetzbar sind. Dieser streng kausale Zusammenhang zwischen den einzelnen Szenen wird auch als dramatisches Erzählprinzip bezeichnet.
In der Praxis existiert es jedoch nicht als Reinform. Denn auch ein geschlossenes Drama kommt nicht ohne epische Elemente aus. Aufgrund dieser Anforderungen setzt sich Stoffentwicklung im Rahmen der geschlossenen Dramaturgie dem permanenten Widerstreit zwischen Konstruktion und Organischem, zwischen Handlungslinien und Charakterdispositionen aus. Die Herausforderung besteht darin, beiden Aspekten gerecht zu werden.
Beim Zuschauer bedient und befriedigt die geschlossene Dramaturgie grundlegende menschliche Bedürfnisse und Sehnsüchte nach:
- Ordnung, Orientierung und Führung
- Entwicklung
- Abrundung und Harmonie
- Ganzheit und Kohärenz
- Sinn, Bedeutung und Erkenntnis: Alles, was man tut, hat Konsequenzen.
- Verständlichkeit und Einfachheit: Zusammenhänge werden durchschaubar.
- Lösung: Konflikte legen sich bei.
Die geschlossene Dramaturgie bildet die Grundlage für verschiedene Strukturmodelle.
Offene Dramaturgie ^
In einer offenen bzw. epischen Dramaturgie liegt das Verständnis von Film als Fragment zugrunde. Die mosaikartige Narration weist keine übergeordnete (Akt-)Struktur auf. Das Geschehen gliedert sich vielmehr in Stationen (Stationendrama) und setzt unvermittelt ein, ohne dass Figuren und Schauplätze eingeführt werden. Gleichsam bricht es am Ende des Films ebenso unvermittelt ab, ohne dass die Handlung vorher abgerundet wird. Die offene Dramaturgie will sich damit bewusst vom Anspruch befreien, einem Stoff, einer Geschichte oder einem Thema abschließend oder umfassend gerecht werden zu können.
Kennzeichnend für eine offene Dramaturgie ist, dass Szenen weitgehend voneinander unabhängige Episoden repräsentieren und somit für sich selbst bzw. für die Gesamtproblematik der Geschichte stehen. Anstatt aktiv herbeigeführter Handlungen werden primär zustandshafte Begebenheiten, Situationen und Umstände dargestellt, zu denen sich die Figuren gemäß ihres Charakters verhalten. Die Verknüpfung der Geschehnisse erfolgt über das Konstruktionsprinzip der Reihung – ‚und dann, und dann…’ – sowie über das Thema des Films. Tiefe und Dichte erhalten die Geschichten durch elaborierte Motiv-Reihen und erzählerische Inseln in Form von thematischen oder ästhetischen Verdichtungen. Enthält die Geschichte Wendungen, so werden diese nicht exponiert oder dramatisiert.
Die offene Dramaturgie fordert vom Zuschauer in der Regel eine aktivere Teilnahme, da er weniger geführt wird als in der geschlossenen Dramaturgie. Die offene Form eignet sich für reine Komödien sowie für freie, episodische, experimentelle oder dokumentarische Stoffe aller Längen.
Literaturempfehlungen
• Aristoteles: Poetik.
• Klotz, Volker: Geschlossene und offene Form im Drama. München 1960.
• Rabenalt, Peter: Filmdramaturgie. Berlin 2000.
In einem Interview in der ZEIT zitiert Andreas Dresen Wolfgang Kohlhaases Definition des Begriffs Dramaturgie:
„Dramaturgie ist ein System von Regeln gegen die permanente Bereitschaft eines Publikums, sich zu langweilen.“
Schön, oder?
Ein katastrophales Defizit in der Dramaturgie betrifft Büchners Woyzeck-Fragment. Nicht ein einziger Text, keine einzige Aufführung nimmt Büchners Dramaturgie mit der die gleichsam rituellen Hinrichtung, Opferung einer weiblichen Hauptfigur, die gleichzeitig merkwürdig blass und unbestimmt bleibt, adäquat zur Kenntnis. Um diesen Kern in dem 1. Handschriftenentwurf fügt Büchner dann weitere Szenen, die freilich jene ursprüngliche Dramaturgie, hat man sie einmal auf dem Schirm, keineswegs modifizieren, geschweige denn gravierend umstülpen. Niemand traut sich da heran; der Mordkomplex, der ein Drittel der 1. Entwurfsstufe beansprucht, wird allenthalben entschärft durch das Sozialdrama, historisierende Bezüge usw. Obwohl alle Handschriftenentwürfe, insbesondere der letzte, die sogenannte Hauptfassung, auf dem Höhepunkt der Handlung die Beziehung zwischen Täter und Opfer als die von Kind und Mutter darstellt und zwar offen. Technisch gesprochen: Das Woyzeck-Fragment enthält explizite allegorische Textpassagen (Liedtexte, Märchenparabel) und muss deswegen als Ganzes in Bezug auf eine allegorische Dimension hinterfragt werden. Ich würde mich freuen, wenn mein Hinweis eine Diskussion unter kompetenten Dramaturgen anstoßen könnte. Die geisteswissenschaftlichen Folgerungen aus Büchners Text mit dem verdeckten Muttermord und den dazugehörigen verschiedenen Motiven und Anklagen (u.a. sexueller Missbrauch) sind noch nicht einmal andiskutiert …