Wendepunkte
Wendungen ^
Eine Wendung lenkt die Handlung in eine neue, andere, unerwartete Richtung. Dies kann durch eine Entscheidung, Information, ein Ereignis oder eine Einsicht geschehen. Sie schließt eine narrative Einheit ab und erzeugt gleichzeitig eine neue Erzählsituation.
Die Funktion von Wendungen besteht darin, einen linearen Verlauf der Handlung zu durchbrechen und damit das Interesse des Zuschauers zu binden. Denn damit eine Geschichte nicht vorhersehbar wird, ist es nötig, dass sie nicht auf direktem, geradem Weg zum Ende kommt, sondern über Umwege.
Mit jeder Wendung wird eine neue Frage gestellt, die durch die weitere Handlung beantwortet werden muss: Was sind deren Auswirkungen für den weiteren Verlauf des Films?
Die Zeitspanne vom Aufwerfen einer Frage bis zu deren Auflösung ist je nach Wendung unterschiedlich lang. Während der Bogen einer kleinen Wendung nur eine Szene umfassen kann, dauert die Beantwortung der zentralen Frage den gesamten zweiten Akt.
Haupt-Wendepunkte ^
In einer Storyline gibt es bis zu acht zentrale Wendepunkte. Diese leiten die Handlung so stark um, dass sich deren Ausrichtung verändert: Ein für die Hauptfigur positiver Verlauf wird negativ, ein negativer Verlauf wird positiv. Die extremste Ausprägung eines Wendepunktes wird als Umschlag bezeichnet.
Die Haupt-Wendepunkte sind genau definiert und strukturell fixiert: Anstoß, Plot-Point 1, Erster Kniff, Midpoint, Zweiter Kniff, Plot-Point 2, Klimax und Letzter Twist. Die beiden Plot-Points trennen die drei Akte voneinander ab. Sie haben daher immer eine Wendung der Geschichte zur Folge. Midpoint und Klimax müssen dagegen nicht zwangsläufig eine Wendung hervorrufen. Sie bieten lediglich die Möglichkeit einer Wendung. Dies bedeutet, dass eine Geschichte – je nach individuellem Verlauf – zwei bis vier große Wendungen durchläuft. Mit der Unterteilung der Handlung durch die Haupt-Wendepunkte ergeben sich verschiedene Strukturmodelle einer Filmgeschichte.
Jede Storyline einer Geschichte verfügt über eigene Wendepunkte. Die Wendepunkte der A-Storyline definieren dabei die Struktur der gesamten Handlung.
Über die Wendepunkte der anderen Storylines werden Verknüpfungen zwischen den verschiedenen Handlungssträngen hergestellt. So hat ein Wendepunkt der einen Storyline oft auch Auswirkungen auf eine andere Storyline. Zum Beispiel kann ein Wendepunkt einer Sub-Storyline eine Wendung im Hauptplot herbeiführen. Aber auch ohne inhaltliche Verbindung werden Wendepunkte verschiedener Storylines gebündelt, um eine strukturelle und dramatische Einheit der Geschichte zu erreichen. Indem man die verschiedenen Wendepunkte jedoch leicht versetzt, kann man sie so miteinander verzahnen, dass die Übergänge verwischt werden.
Mikro-Wendungen ^
Neben den Haupt-Wendungen gibt es in einer Geschichte auch eine Vielzahl an Mikro-Wendungen, die lediglich graduelle Veränderungen darstellen. Prinzipiell ist es möglich und erstrebenswert, jede Sequenz, jede Szene, Situation und Aktion mit einer Wendung abzuschließen und damit in den nächsten Abschnitt des Films überzuleiten. Die Anzahl dieser Mikro-Wendungen ist also variabel und ihre Position flexibel.
Interner und externer Wendepunkt ^
In der Regel setzt sich eine Wendung aus zwei Bestandteilen zusammen: einem Bruch der inneren Handlung (interner Wendepunkt) und einer daraus folgenden Neuausrichtung des äußeren Handlungsverlaufs (externer Wendepunkt). Eine Veränderung oder Enthüllung kann beispielsweise dazu führen, dass die Hauptfigur ihre Pläne ändern muss.
Anstoß ^
Der Anstoß (auch: Auslöser, Auslösendes Ereignis, Ruf des Abenteuers, Katalysator) bringt die Handlung ins Rollen und deutet die Wendung des ersten Plot-Points an bzw. bereitet diese vor. Er ist mit dem Plot-Point 1 gekoppelt, indem er dessen negatives oder positives Vorzeichen darstellt. Dabei teilt er den ersten Akt in zwei Hälften.
Der Protagonist erfährt den Anstoß durch das auslösende Ereignis. In diesem wird aufgefordert, sich mit einer bestimmten Aufgabe auseinanderzusetzen. Er wird aus seinem Ruhezustand gerissen und in Alarmbereitschaft versetzt.
Plot-Point 1 ^
Der Plot-Point 1 trennt den ersten vom zweiten Akt. Er lenkt die Handlung entweder in einen aufsteigenden, positiven oder in einen absteigenden, negativen Verlauf. Idealerweise verkörpert er das Best- bzw. Schlimmstmögliche, das dem Protagonisten gemäß seiner Exposition widerfahren kann. Damit wirft der Plot-Point 1 die zentrale Frage des Films auf, die den gesamten zweiten Akt des Films prägt.
Pinch-Point 1 / Erster Kniff ^
Der erste Pinch-Point bzw. „Kniff“ tritt nach dem ersten Viertel des zweiten Aktes auf – also nach etwa 3/8 der Geschichte. Er stattet die Protagonistin mit neuen Informationen aus und macht so den zentralen Konflikt der Geschichte deutlich. Gleichzeitig erinnert er die Protagonistin an die Macht ihrer Gegner – die Protagonistin fühlt sich buchstäblich in die „Zange“ genommen.
Midpoint ^
Wie sein Name bereits verrät, befindet sich der Midpoint in der Mitte des zweiten Aktes und teilt die Geschichte somit in zwei Hälften. Er stellt einen optionalen Wendepunkt dar. Das bedeutet, dass an diesem Punkt der Geschichte eine Wendung erfolgen kann, aber nicht muss. Es kann auch sein, dass sich der positiv-steigende bzw. der negativ-fallende Handlungsverlauf weiter bis zum Plot-Point 2 fortsetzt.
Pinch-Point 2 / Zweiter Kniff ^
Der zweite Pinch-Point bzw. „Kniff“ fungiert quasi als Spiegelung des ersten Pinch-Points / Kniffs – inhaltlich wie strukturell. Er findet nach dem dritten Viertel des zweiten Aktes – sprich nach etwa 5/8 der Geschichte – statt und ruft den zentralen Konflikt noch einmal ins Bewusstsein. Gleichzeitig gibt der zweite „Pinch“ eine Ahnung von den Konfrontationen, die noch kommen, und erinnert Protagonist wie Zuschauer wieder daran, was auf dem Spiel steht. Zusammen fungieren die beiden Pinch-Points damit als strukturelle „Zange“ eines Films.
Plot-Point 2 ^
Wie der Plot-Point 1 stellt auch der Plot-Point 2 einen obligatorischen Wendepunkt in einer Geschichte dar. Er trennt den zweiten vom dritten Akt und bildet das Ende der Hauptspannung. Er gibt die (vorläufige) Antwort auf die vom Plot-Point 1 aufgeworfene zentrale Frage.
Klimax ^
Die Schlussspannung des Films kulminiert in der Klimax (auch: Showdown, Battle, Auflösung). Sie teilt den dritten Akt in zwei Hälften. Die Klimax kann das Resultat des zweiten Plot-Points entweder bestätigen oder umkehren. Sie stellt somit den Moment dar, in dem sich die Handlung endgültig entscheidet.
Anders als die anderen Wendepunkte ist die Klimax nicht nur strukturell definiert. Als Moment der höchsten Spannung des Films beinhaltet sie auch eine inhaltliche Dimension: Sie ist das Resultat des Showdowns, in dem der Protagonist existenziell geprüft wird.
In dieser Prüfung muss der Protagonist zeigen, was er gelernt hat: Sie ist das ultimative Nadelöhr, durch das er auf dem Weg zu seinem Want gehen muss, den Trichter, in dem alle Figuren sowie Story-Linien zusammenlaufen. Hier bündelt sich alle Energie, hier stoßen die unvereinbaren Ziele, Interessen und Werte der Konfliktparteien zusammen. Alles, was den ganzen Film über gesät wurde, wird jetzt geerntet.
Der Protagonist wird charakterlich, geistig und körperlich zugleich gefordert. Sein Bewusstsein und seine Wahrnehmung sind gesteigert. Um auch die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu steigern, wird hier oft das Mittel der Suspense eingesetzt, dem Protagonisten also eine entscheidende Information vorenthalten.
Indem der Protagonist mit seiner eigenen Endlichkeit und Fragilität konfrontiert wird, fühlt er den Sinn und Wert des Lebens. Er muss seine geschärften Sinne einsetzen und sein neues, akkumuliertes Wissen über sich und die Welt anwenden. All seine bisherigen Erkenntnisse und Erfahrungen müssen sich jetzt in der Praxis bewähren. In diesem Moment sind sich Protagonist und Antagonist am Ähnlichsten.
Doch gleichzeitig offenbart sich im Widerstreit ihrer Werte der entscheidende Unterschied zwischen ihnen. Schlagartig wird dem Zuschauer das Thema des Films und dessen Wahrheit offenbar. Damit wächst die Geschichte aus ihren stofflichen, also zeitlich, örtlich und individuell verankerten Grenzen heraus und verweist auf universale Zusammenhänge.
Die Aussage, bei einem Kinofilm sei der Schluss das Wichtigste, meint eigentlich die Klimax. Sie ist der konzentrische Punkt des Films, von ihr ausgehend strahlt alles nach vorne und nach hinten. Die Klimax geht über in die Katharsis von Protagonist und Zuschauer.
Wird die Erwartungshaltung einer Klimax bewusst nicht bedient, fällt die Klimax also aus, spricht man von einer ‚Antiklimax‘.
Letzter Twist ^
Anstatt des vermeintlichen Endes der Geschichte kann es ganz zum Schluss, meistens in der letzten Szene bzw. in den allerletzten Einstellungen, nochmals eine völlig unverhoffte Wendung geben: den letzten Twist.
Ein Paradebeispiel für einen letzten Twist ist, dass das vermeintlich tote Ungeheuer doch nicht tot ist…
Umschlag ^
Wenn die Ereignisse am Ende des zweiten bzw. im dritten Akt einer Lösung entgegenstreben und sich dabei zunehmend dramatisieren und überschlagen, nehmen die Wendepunkte den Charakter eines Umschlags an. So kann sich die Handlung beim Plot-Point 2, in der Klimax oder beim letzten Twist schlagartig in ihr komplettes Gegenteil verkehren, so dass der Protagonist ein Wechselbad der Gefühle duchlebt. Dieser Extremfall einer Wendung, die alles auf den Kopf stellt, wurde von Aristoteles als Peripetie bezeichnet.
Literaturempfehlungen
• Field, Syd: Screenplay: The Foundations of Screenwriting. 2005. / Das Drehbuch – Die Grundlagen des Drehbuchschreibens. 2007.
• Seger, Linda: Making a Good Script Great. Los Angeles 2010. / Das Geheimnis guter Drehbücher. 2012.
Plot-Point 1 und 2 werden gerne die Wendepunkte zum 2., bzw. 3. Akt genannt. Das ist so nach Syd Field eigentlich nicht richtig. Als Plot-Point bezeichnet er den Punkt kurz VOR dem Wendepunkt, also das Ereignis, das zum eigentlichen Wendepunkt führt. Vgl. Syd Field, „Das Handbuch zum Drehuch“, Verlag Zweitausendeins 1991, S. 39. Spätere Autoren haben das vereinfacht.