Weltenbau
Mit ‚Worldbuilding‘ oder ‚Weltenbau‘ bezeichnet man den Prozess der Erschaffung einer fiktiven Welt. Dieser Prozess kann sehr komplex sein, wie z.B. ein neues Universum mit eigenen Naturgesetzen zu kreieren, er kann aber auch nur in einer leichten Anpassung der realen Welt an die Erfordernisse der Geschichte bestehen.
Die Storyworld bildet den Hintergrund, vor dem sich die Geschichte abspielt. Sie stellt in gewisser Weise das geschlossene System dar, innerhalb dessen sich die Geschichte abspielt. Sie definiert, welche Grenzen, Naturgesetze und „Spielregeln“ für alle ihre Akteure gelten. Oftmals beginnt eine Geschichte zunächst in der vertrauten, bekannten Welt, bis die Hauptfigur die Schwelle zu einer unbekannten Welt übertritt (prototypisch z.B. bei „Die unendliche Geschichte“, „Harry Potter“, „Avatar“). Diese unbekannte Welt gilt es in einem kreativen Prozess aktiv zu erschaffen, indem sie als ein fiktiver Gegenentwurf zur vertrauten Welt konzipiert wird.
Je mehr Unterschiede es zwischen der realen Welt und der Storyworld gibt, desto hilfreicher und wichtiger ist es, diese Welt mit all ihren Facetten und Regeln sorgfältig zu bauen, damit sie in sich stimmig und der perfekte Nährboden für die Geschichte ist. Während man für Fantasy, Mystery, Near Future oder Science Fiction die Welt und deren Regeln erst erschaffen muss, muss man sie für historische Stoffe oder Geschichten, die (teilweise) in fremden Ländern bzw. Kulturen spielen, recherchieren.
Was zeichnet eine starke Storyworld aus?
1. Detailreichtum, um die Welt glaubwürdig und lebendig zu machen. John Truby spricht hier von dem Effekt, dass sich die Geschichte umso mehr in den Köpfen der Rezipienten ausdehnt, je stärker die Storyworld zu einem komplexen und detaillierten Geflecht verdichtet ist. Während Detailreichtum wichtig ist, um eine immersive Welt zu schaffen, kann unnötige Komplexität die Geschichte überfrachten, die Handlung verlangsamen oder die Verständlichkeit erschweren. Die Storyworld sollte intuitiv und ohne „Infodump“ erfasst werden können.
2. Kohärenz: Eine erfundene Welt muss in sich logisch und konsistent sein, die aufgestellten Regeln müssen konsequent gelten. Um eine Storywelt präzise und stringent entwickeln zu können, muss man übrigens nicht nur die Gegenwart der Welt kreieren, sondern sich auch Gedanken darüber machen, wie die Vergangenheit dieser Welt aussah. Das heißt, man muss sich auch mit der Frage befassen, wie, warum und durch welche Ereignisse sich die Welt zu der Welt entwickelte, die sie zu der Zeit, in der die Geschichte spielt, ist.
3. Storyworld als Akteur: Die Storywelt dient nicht als bloße Kulisse, vor der die Geschichte spielt, sondern sie beeinflusst die Geschichte und Figuren aktiv und ist tief in die Erzählung integriert. Zwischen der Storywelt und den Figuren muss es eine organische Verbindung geben.
4. Symbolische Bedeutung: Die Storyworld soll die Protagonist/innen herausfordern und ihnen die Möglichkeit geben, sich ihren größten Ängsten zu stellen oder über sich hinauszuwachsen. Laut John Truby ist die Storyworld ein physischer Ausdruck des Figurengeflechts bzw. eine unendlich detaillierte Manifestation der Hauptfiguren und ihrer Themen.
5. Analogien zur realen Welt: Anspielungen sorgen für A-ha-Effekte. Die Storyworld dient als Mittel bzw. Spiegel, um etwas über die reale Welt auszusagen und somit Lehren bzw. Erkenntnisse über unsere Gesellschaft einzubauen.
6. Kontraste: Dass die Storywelt kohärent sein soll, bedeutet aber nicht, dass sie gleichförmig, einheitlich und berechenbar sein soll – im Gegenteil: Eine spannende Welt zeichnet sich vielmehr durch Kontraste, Konflikte und Geheimnisse aus. Um diese Dynamiken herauszuarbeiten, kann es nützlich sein, die Storyworld in verschiedene Subwelten aufzuteilen. Diese können – innerhalb des global gültigen Storywelt-Systems – in ihrer Ausprägung auch sehr verschieden sein. Beispielsweise können die Teilwelten bzw. Settings jeweils eine ganz andere Atmosphäre oder zusätzliche eigene Regeln haben oder aber überraschende Dimensionen offenbaren und auf diese Weise die Figuren, die sie beheimaten, charakterisieren – solange sie sich wie gesagt in das übergeordnete Regelsystem der gesamten Welt einfügen.
Wie geht man beim Erschaffen einer Storyworld vor?
Als erstes ist die Frage zu stellen, welchen Ansatz die Stoffidee nahelegt: Tendiert die Geschichte dazu, character-driven, plot-driven oder world-driven zu sein? Je nachdem, wie die Antwort darauf ausfällt, stehen entweder die Figuren oder die Handlung oder aber die Storyworld am Beginn aller Überlegungen.
Die Storyworld als Ausgangspunkt zu nehmen, kann vor allem dann erzählerisch ergiebig sein, wenn man etwas über ein bestimmtes (gesellschaftliches) System, eine Zukunfts-Technologie oder magische Phänomene erzählen möchte, wenn das Verständnis der Welt essentiell für das Verständnis der Geschichte ist oder wenn die Settings der Geschichte sehr besonders sind. Der world-driven Ansatz birgt allerdings die Gefahr, sich zu sehr auf den Weltenbau zu konzentrieren. Stattdessen gilt es, mögliche Protagonisten und Erzählstränge frühzeitig mitzudenken und parallel zu entwickeln.
Dabei sollten Weltenbau, Figurenentwicklung und Handlung Hand in Hand gehen und sich dabei immer am Thema der Geschichte orientieren. Denn die Storyworld beeinflusst nicht nur, wo und wie die Figuren leben, sondern auch ihre Persönlichkeiten, Verhaltensweisen und Beziehungen: Die kulturellen, ökonomischen oder politischen Bedingungen der Welt, ihre (sozialen) Dynamiken, (räumlichen) Grenzen, (magischen) Möglichkeiten oder einzigartigen Besonderheiten prägen die Werte, Ziele und Herausforderungen der Figuren. Damit eine wirkliche Synergie zwischen Storyworld, Figuren und Plot entstehen kann, sollte sich der Weltenbau aber nicht nur auf die Konflikte der Protagonist/innen auswirken, sondern auch auf deren Entscheidungen, und auf diese Weise dazu beitragen, die Handlung voranzutreiben.
Hierbei gibt es zwei grundsätzliche methodische Ansätze:
Top-Down Worldbuilding:
Beim Top-Down- (oder Outside-In-)Ansatz beginnt man mit einem breiten Überblick über die Welt und arbeitet sich dann zu den spezifischeren Details vor. Dieser Ansatz ist hilfreich, wenn man eine umfassende und kohärente Welt erschaffen möchte, die in sich logisch und strukturiert ist. Man startet typischerweise mit den allgemeinen Aspekten und übergeordneten Merkmalen der Welt, wie der Geografie oder großen kulturellen Strömungen. Danach definiert man spezifischere Elemente wie politische Systeme, Wirtschaftsstrukturen und schließlich individuelle Schauplätze und Figuren. Beim Erschaffen einer Fantasy-Welt könnte man zum Beispiel zuerst die physische Struktur des Kontinents skizzieren, die vorherrschenden Klimazonen festlegen und dann die verschiedenen Königreiche oder Völker definieren, die auf diesem Kontinent leben. Anschließend könnte man tiefer in die Kulturen, Sprachen und Religionen dieser Gesellschaften eintauchen.
Bottom-Up Worldbuilding:
Der Bottom-Up- (oder Inside-Out-)Ansatz beginnt bei einem kleinen, für die Geschichte wichtigen Ausschnitt der Welt und baut diese Mikro-Elemente schrittweise zu einem größeren Gesamtbild aus. Dieser Ansatz ist besonders geeignet, um tiefgreifende und detaillierte Aspekte einer Geschichte zu entwickeln, die stark von den Figuren oder Settings abhängen. Man startet mit einem spezifischen Ort oder einer spezifischen Gruppe innerhalb der Welt. Dies könnte ein einzelnes Dorf, eine bestimmte Institution oder eine Gemeinschaft sein. Im nächsten Schritt entwickelt man die umgebenden Elemente wie lokale Bräuche, regionale Politik und schließlich die breitere Welt mit ihren globalen Systemen und Regeln. Bei der Entwicklung einer dystopischen Welt könnte man beispielsweise mit einer kleinen Rebellengruppe beginnen, die gegen ein unterdrückendes System kämpft, und ihre täglichen Herausforderungen, Ziele und unmittelbare Umgebung entwickeln. Anschließend erweitert man die Welt um sie herum, indem man die Regierung und die Gesellschaftsordnung definiert, gegen die sie kämpfen.
Welche Aspekte umfasst der Weltenbau?
Natur
- Geographie
- Klima
- Naturgesetze
- Pflanzen
- Tiere
Übernatürliches
- Übersinnliche Phänomene
- Arten von Magie
- Magische Gesellschaften
- Magische Wesen
- Spirituelle Praktiken
- Mystische/Magische Orte
- Mystische/Magische Gegenstände
Zeit
- Kalender
- Jahreszeiten
- Zeitzonen
- Zeiteinheiten
- Zeitmessung
Kultur
- Religion
- Philosophie
- Kunst
- Unterhaltung
- Sport
Gesellschaft
- Gruppierungen (Klassen/Schichten/Ethnien/Gemeinden)
- Normen & Werte
- Sprache
- Ernährung
- Wohnen & Städtebau
- Demographie
- VIPs
Politik
- Regierungsform
- Gesetze
- Politische Institutionen
- Parteien & politische Bewegungen
- Korruption
Wirtschaft
- Wirtschaftsform
- Handel
- Produktionsmittel
- Währung
- Berufe & Arbeitsmarkt
Technologie
- Mobilität
- Kommunikation
- Energiegewinnung
- Neue Berufe
Bildung
- Bildungseinrichtungen
- Curriculum
- Bildungsmethoden
- Ausbildungen
Verteidigung
- Militär
- Militärische Waffensysteme
- Verteidigungsanlagen
- Verteidigungsstrategien
Kriminalität
- Arten von Verbrechen
- Kriminelle Vereinigungen
- Waffen
- Gesetzesvollzug
Geschichte
- Epochen
- Ereignisse
- Mythen & Sagen
- Traditionen
- Bedeutungsvolle Artefakte
Nicht alle Aspekte und Details der Storywelt sind unmittelbar für die Geschichte relevant. Auch wenn sie es nicht als konkrete Schauplätze oder Figuren in die finale Geschichte schaffen, machen sie sie reicher und glaubwürdiger, indem sie indirekt in die Handlung einfließen. Eine geschickte Integration der Storyworld in die Handlung kann durch Beschreibungen, Dialoge oder durch die Handlung selbst geschehen.
Literaturempfehlungen
- Fahmüller, Eva-Maria: Die Vergangenheit der Welt. World-driven Storytelling fügt dem Erzählen eine neue Dimension hinzu: die Raumzeit. In: Wendepunkt #54, Juni 2024, https://www.dramaturgieverband.org/fachmagazin-wendepunkt/artikel/die-vergangenheit-der-welt
- Fahmüller, Eva-Maria: Worldbuilding: Die Methode der Teilwelten. Wie erschafft man komplexe Storywelten für Serien und Filme? Eine praxisorientierte Topografie des Dramas am Beispiel einer fiktiven Krankenhaus-Serie. In: Wendepunkt #54, Juni 2024, https://www.dramaturgieverband.org/fachmagazin-wendepunkt/artikel/worldbuilding-teilwelten-methode
- Truby, John: The Anatomy of Story: 22 Steps to Becoming a Master Storyteller. New York 2007.
- Truby, John: The Anatomy of Genres: How Story Forms Explain the Way the World Works. New York 2022.
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